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Kiezperience Kolkata
(Indien, 2012)

„[..] Der einäugige Manager humpelte die Treppe hinauf, um uns ein armseliges Loch von einem Zimmer zu zeigen. Über dem Bett stand geschrieben `Das ist die schlimmste Nacht meines Lebens`. [..] Das war der Moment, in dem wir begriffen, dass das Wort ´Budgetunterkunft´ in Kolkata für eine ganz neue Dimension des Ekels steht.“ (LP Indien; S.580)

Der obige Passus im Reiseführer zum Thema „Billige Butze in Kolkata“ spiegelt im Prinzip auch unsere harte Zimmersuche wider. Am besten fand ich den dreisten 40Kg-„Hotelier“, der uns eine Art Durchgangs-Speisekammer hinter der Hofküche mit zwei klapprigen Liegen für unfassbare 800Rs anbot. “You can ask the cook for handwash“ – soviel zum Thema Bad. Im Flur saßen zwei Belgier, die sich ihr Abendessen offenbar selber schnippelten. Vermutlich aus Angst. Wer günstig hausen will, setzt sich freiwillig dem ganzen Flair aus x-fach überstrichenen Schimmelwänden, lose verknaubelter Stromkabel in Augenhöhe, EC-Karten-großen Insekten, allabendlichem Flohzirkus in der Matratzenmanege, Zecken unterm Kopfkissen, lustigem Wanzennarbenzählen zum Morgen-Tee und erheblich eingefärbtem Leitungswasser aus … Welcome to „Hotel Gul(l)istan“.

Die Dimensionen der westbengalischen „Molochopole“ sind gigantisch; 137x mehr Einwohner als Jena (diesen Vergleich habe ich mal in einer Email an Jens gezogen), auf einer Fläche ca. so groß wie das Saarland (dieser Vergleich ist recherchiert, da ich niemanden im Saarland kenne; wenns nich so klein wäre …). Nirgendwo anders skaliert sich Indien so radikal unterschiedlich in Sachen „Haste Kaste?“, Hygiene, Verkehr und nunja … Verwaltung (Chaos trifft es auch ganz gut). In die drittgrößte Stadt Indiens einzutauchen, ist ergo ein ebenso respekteinflößendes wie faszinierendes Unterfangen. Im verhältnismäßig urbanen Backpacker-GhettoKiez der „Sudder Street“ kann man wider der Basishygiene hautnah dem „Meganismus“ Kolkata nachspüren. Wir blieben zwei Wochen.



Auf der Straße lungern betelrotzende Taxifahrer, dreiste Shopbesitzer, abgemagerte Rikshaw-Rentner, herrenlose Straßenkinder und unzählige Milchpulver-Muttis, die das „Hannah-Piercing-to-go“-Paket abdecken. Wenn es mal wieder monsunartig regnet, stellt man beim gemütlichen TV-Zapping unterm klapprigen Ventilator fest, dass sich die Fernsehlandschaft im Wesentlichen nicht vom fürchterlichen Heimatangebot der Privaten unterscheidet. Es laufen permanent irgendwelche billigen Cooking-, Casting- und Dancing-Shows – sowohl in der Erwachsenen als auch in der Kinder-Variante. Sharuk und Kareena machen nachwievor Werbung für alles – von Bleichcremes über Rohstahl bis zur Wandfarbe. Bspw. lümmelt SRK auf einem Plakat im Boxer-Trainingslook neben einer Rum-Flasche. Danaben der Satz: „Have I made it large.“ … man beachte das Satzzeichen. Sowas könnte sich bei uns vielleicht Mario Adorf erlauben. Apropos, in Kolkata gibt’s auch ziemlich viele Kinos, wo „mehrtägige“ Bollywood-Schinken auf Hindi laufen - natürlich ohne Untertitel. Die Gebäude stammen überwiegend noch aus der Kolonialzeit und verbreiten trotz immenser Baumängel eine magisch-cineastische Atmosphäre (die Szenen am Ticketschalter sind allerdings nich so magisch).



Die örtlichen „Beer-Bars“ oder „Wine-Shops“ eignen sich ideal dazu, mal die Landeskultur abseits der Tempel aufzuschnapp(s)en. In den klimatisierten Lokalen läuft üblicherweise Cricket oder ein alter Van-Damme Streifen, den erstaunlich viele Inder mögen. Zwischendrin hocken ein paar Transvestiten, die sich bei Bier und Nüsschen von ihren Landsleuten aushalten lassen. Mehr als bisschen umarmen läuft jedoch nicht; schließlich ist Van Damme dran. Um 23:00 Uhr ist Schluss. Trinken bis der Hahn kräht – nich´ in Kolkata. Jule und ich haben dort übrigens das Cricket-Finale zwischen Sri-Lanka und den West-Indies verfolgt. Die Inder nahmen das entscheidende Spiel obschon ihrer passionierten Haltung ziemlich leidenschaftslos zur Kenntnis; naja, bei uns sind die landesweiten WM/EM-otionen ja auch raus sobald wir raus sind.

Summa summarum schließen sich in Kolkata „günstig wohnen“ und „sich wohlfühlen“ nicht zwingend aus, auch wenn das ein gewisses Maß an Anpassungsfähigkeit einfordert. Kolkata ist eine metropolerge Lebenserfahrung, die zweifellos das Prädikat „unvergesslich“ verdient.

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